Amerika

Amerika – Schauspiel Stuttgart

Kafkas unvollendet gebliebener Roman Amerika, der auch den Titel Der Verschollene trägt, beginnt mit einer Verheißung: „Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.“

In New York wird Karl von einem reichen Onkel aufgenommen und später unter fadenscheiniger Begründung verstoßen. Auf der Suche nach Arbeit begegnet er zwei Landstreichern, die ihn ausnutzen, findet unter der Obhut der Oberköchin des Hotel Occidental einen Job als Liftboy und landet als Diener bei der ehemaligen Sängerin Brunelda.

Schließlich bekommt er eine Anstellung als Techniker beim Naturtheater von Oklahoma.

Franz Kafke Amerika ist eine Auswanderergeschichte und zugleich ein Anti-Bildungsroman: Jemand sucht in der Neuen Welt sein Glück und wird ein Niemand. In aberwitzigen Abenteuern schildert Kafka den sozialen Abstieg seines Helden und seziert humorvoll und sarkastisch den amerikanischen Traum. Er erzählt von Fremdsein und Weltverlust und von der existenziellen Suche eines Heimatlosen in der modernen Welt.

Amerika  – Die deutsche Bühne

Franz Kafkas unvollendet gebliebener Roman „Amerika“ kommt am Schauspiel Stuttgart bildhaft auf die Bühne. Viktor Bodó schafft einen Abend, der unterhält, über die Gesellschaft spricht und nicht zuletzt Absurdität beinhaltet.

Wenn Safranski ein Buch über Kafka veröffentlicht, dann muss ein Anlass vorliegen: Kafka starb vor hundert Jahren 1924 – wir sind in einem „Kafkajahr“. Landauf, landab spielen auch Theater Adaptionen seiner Romane und Erzählungen. Jetzt auch am Schauspiel Stuttgart.

Viktor Bodó inszeniert den sperrigen, weil fragmentarischen Text von „Amerika“, bzw. „Der Verschollene“. In seiner Fassung hält er sich weitgehend am Ablauf des Originaltextes. Die Szenen um die beiden Landstreicher sind allerdings stark eingekürzt.

Im Zentrum steht Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika verbannt wird, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat. In New York gelandet, trifft er auf seinen reichen Onkel Jakob (wunderbar aasig: Michael Stiller), der ihn aufnimmt. Als er aber gegen den Wunsch des Onkels eine Einladung annimmt, lässt auch dieser ihn verbannen.

Er landet auf der Straße, lässt sich von den Landstreichern Delamarche (Marco Massafra) und Robinson (Peer Oscar Musinowski) ausnehmen. Er findet Unterkunft und einen Job als Liftboy, doch auch dort wird er wieder mit Schimpf und Schande entlassen, nachdem der betrunkene Robinson im Hotel aufgetaucht ist: Er will ihn als Diener bei Brunelda (Therese Dörr, die mit ihren Rollen spielerische Höhepunkte setzt) holen, der nächste Schritt in eine Demütigung, bis er sein Glück (?) im Naturtheater von Oklahoma findet.

Die großen Brüche zwischen (kurzem) Glücksgefühl und tiefen Demütigungen spielt David Müller naiv aus: er leidet nie wirklich, er schaut mit großen Augen staunend auf das, was mit ihm passiert. Alles ist neu für ihn, eine Vergangenheit hat er nicht (nicht einmal denkt er an sein Kind): Es gibt nur ein Vorwärts, so schlecht dieses auch ist, er nimmt es gleichmütig hin. 

Viktor Bodó unterstützt in seiner Regie das „Tumbhafte“ (Erinnerungen an „Parzival“ drängen sich auf) in der Figur des Roßmann, der von Station zu Station eilt, ohne Aussicht auf Erlösung. Müller ist auch der Einzige, der seine Rolle durchspielt: Im exzellenten Ensemble übernimmt jede*r mehrere Rollen.

Zita Schnábel hat ein langsam ansteigendes, weiß ausgeschlagenes Podestband geschaffen, eine Art Half-Pipe, dass für die einzelnen Bilder verändert werden kann: Mal schwingt es sich hinten in der Höhe, mal werden einzelne Podestsegmente hochgefahren.

Auf einer bildschirmartigen Tafel werden Videos von Bors Ujvári und Nur Mohammed projiziert wie für den Blick aus dem Fenster in New York oder die Fahrt im Lift. Die Videos sind klug eingesetzt, wie auch die atmosphärische Musik von Klaus von Heydenaber, die wie im Film im Hintergrund läuft und sich doch ins Ohr einschmeichelt.

Die Kostüme von Dóra Pattantyus verweisen auf die „goldenen Zwanziger“, die auch direkt zitiert werden, wenn das Frauenensemble im typischen Outfit eines Nightclubs der zwanziger Jahre mit „Bei mir bist du schön“ von den Andrew Sisters auftreten. Sie gibt den Figuren auch groteske Züge, wenn die Geschäftsleute Pollunder und Green in Fatsuits auftreten.

Viktor Bodó setzt auf starke atmosphärische Bilder, die filmisch konzipiert sind. Zu Beginn wird der Start eines Büroalltags gezeigt, der in die Monotonie des Alltags umschlägt: einfach schöne Bilder. Ebenso beherrscht er die Kunst der Tempi: Was eben noch mit einer enervierenden Langsamkeit begann, nimmt blitzschnell Tempo auf.

Immer wieder werden Stopps eingebaut, wenn der Erzähler (Simon Löcker) mit Originaltexten von Kafka auftritt. Über dem Ganzen schwebt Selbstironie, wenn es in der Aufführung einmal heißt: „wir vermischen poetischen Realismus und absurdes Theater in Ermangelung von etwas Besseren“.

Mit einem starken Ensemble, zu dem neben den schon Genannten Teresa Annina Korfmacher (u.a. als sadistische Clara), Reinhard Mahlberg (u.a. als perfider Hotelportier), Marietta Meguid (u.a. als resolute Oberköchin) und Celina Rongen (Dienstmädchen) gehören, schafft Bodó einen bildkräftigen Abend zwischen Unterhaltung, Groteske und sozialer Erzählung.

Amerika – Nachtkritik

“Amerika” bzw. “Der Verschollene” ist die Geschichte eines sozialen Abstiegs. Der sprichwörtliche reiche Onkel in Amerika verstößt den Protagonisten Karl Roßmann nach kurzer Zeit. Nicht besser ergeht es ihm als Hotelpage oder als Fußabtreter im Haushalt einer Sängerin.

Karl versteht einfach nicht, wie die “Dinge funktionieren” in der Fremde. Während der Ansager der Szenen (Simon Löcker) zunehmend verzweifelt, begegnet Karl seinen Mitmenschen auf jedem Schritt nach unten weiterhin mit Offenheit und Güte. David Müller spielt das mit einer begeisterten, aber nie peinlichen Naivität. Die Absurdität der Geschichte entfaltet sich mit ihm einfach durch den Gegensatz, dass die Figur rechtschaffen und aufrichtig sein will, aber in eine Welt voll Gier, Lug und Trug geworfen wird. Müller alias Karl bewegt sich durch sie mit immer neuem Erstaunen – ohne dabei als Trottel vorgeführt zu werden oder in Slapstick abzugleiten.

Fall aus der Rolle 

Dem Impuls zu letzterem gibt die Inszenierung von Viktor Bodó an anderer Stelle durchaus nach. Szenen werden willkürlich durch elektronische Musik und Farbprojektionen unterbrochen.

Schauspieler fallen aus der Rolle und kommentieren die Rampenkonstruktion der Bühne (von Zita Schnábel) als Symbol für Unendlichkeit – die aber eigentlich wie eine “verkackte Skipiste” aussehe. Das wirkt – wie auch mancher arg frenetischer Schauspielansatz – stellenweise arg bemüht. Offenbar geboren aus dem Ansatz, eine dem Sujet Amerika angepasste Las-Vegas-Revue kafkaesker Merkwürdigkeiten auf die Bühne zu bringen.

Kampf gegen Papierberge

Zum Schluss kriegt die Inszenierung jedoch die Kurve. Die schwierigste Herausforderung des Romans meistert sie elegant. Das Fragment “Amerika” endet ohne Anbindung an die übrigen Szenen und ohne klaren Schluss mit dem Casting für ein “Naturtheater Oklahoma”.

Regisseur Bodó inszeniert das als eine Art Stellprobe – das Ensemble tollt über die Bühne, eine Gruppe jammt in einer Ecke, während Arbeiter am Bühnenbild herummontieren. Währenddessen kämpft Karl mit dem bürokratischen Papierberg für sein Naturtheater-Engagement. Just an dem gleichen Tisch, an dem zum Vorspiel des Stücks der Büroleiter von Josef K. saß.

Bodó betont damit in einem Bild das offene, auszuarbeitende Ende von Amerika und schafft die Klammer zur Biografie Kafkas und dessen Emigrations-Sehnsucht. Letzteres ist im Kafka-Mania-Jahr 2024 ein cleverer Schachzug.

Franz Kafka Amerika – Lichtdesign Jörg Schuchardt