Schuld und Sühne

Oliver Frljić inszeniert am Staatsschauspiel Stuttgart “Schuld und Sühne” von Dostojewski.

“[…] obwohl wir alle wissen, dass ein Menschenleben nominell den höchsten Wert in der Gesellschaft besitzt, wird es in politischen Kämpfen als Währung benutzt. Dieser Widerspruch interessiert mich.” (Interview mit Christine Wahl)

Kann es die Theorie eines „gerechten“ Mordes geben? Die von Armut geprägten Straßen von St. Petersburg bilden die Welt, in der sich der hochintelligente, aber mittellose Jurastudent Raskolnikow zu behaupten versucht. Im Bewusstsein seiner eigenen Überlegenheit tötet er eine alte Pfandleiherin.

Doch nach der Tat befallen ihn Skrupel. Die Auseinandersetzung mit dem Ermittlungsrichter, der sich an seine Fersen heftet, weitet sich zu einem weltanschaulichen Gefecht aus, und auch die Begegnung mit Sonja, die gezwungen ist, ihre Familie durch Prostitution zu ernähren, bewirkt eine innere Umkehr.

Am Ende erwartet Raskolnikow eine langjährige Haft in einem sibirischen Straflager.
Fjodor Dostojewskis 1866 erschienener Ideenroman stellt die Frage nach der Legitimität von Gewalt und gewinnt im Angesicht der Verbrechen, mit denen wir uns in diesen Tagen konfrontiert sehen, beunruhigende Aktualität. (Schauspiel Stuttgart)

 

Presse zu Schuld und Sühne:

Die Deutsche Bühne:

Von gewöhnlichen und außergewöhnlichen Menschen

Fjodor M. Dostojewski: Schuld und Sühne am Schauspiel Stuttgart

“So wie das Bühnenbild von Igor Pauška Szenen nur skizziert, sie nie in ein realistisches Ambiente stellt, sondern immer die Künstlichkeit des Bühnenraumes betont, so bleibt auch die Inszenierung von Frljić mehr andeutend-assoziativ als auserzählend.

Seine Figuren agieren in einem Halbdunkel, was deren Plastizität betont. Manchmal überlappen sich Szenen auch: Da wartet Sofja im Hintergrund, während im Vordergrund noch eine andere Handlung läuft.”

“Obschon Maja Mirković Kostüme geschaffen hat, die sich historisch verorten lassen, auch die Kutsche und ähnliches auf das 19. Jahrhundert verweisen, entwickelt die Regie ein antinaturalistisches Konzept. Die Figuren führen mit wenigen Ausnahmen eine extreme Körpersprache vor.

Aber auch sonst entwickelt Frljić starke Bilder: Er lässt im grellen Gegenlicht der Christusstatue den Kopf wegblasen, den Sofja zur Andeutung einer Schwangerschaft sich umbindet; oder da entwickelt sich im Büro von Petrowitsch mit einer Trittleiter eine Slapsticknummer, oder Müller und Strobel sitzen an einem Tisch, zu dem immer weitere Tische kommen, sodass eine große Distanz zwischen den Figuren entsteht (ein Schelm, der dabei an Putin denkt).

Höhepunkt im zweiten Teil ist ein vom Schnürboden herabgelassenes Labyrinth mit Hunderten von Äxten, durch das sich am Schluss das Ensemble schlängelt.”

“Auf dieser Bühne ist immer Bewegung. Erzeugen schon die szenischen Arrangements einen starken emotionalen Sog, steigert sich dieser Eindruck noch mit den Atmosphären, die die Musik von Daniel Regenberg schafft, bei der mal unheimliche Stimmungen entstehen, dann wieder ganz zarte lyrische Töne klingen, mal die Musik auf sich aufmerksam macht, mal fast unhörbar eine Szene grundiert. Regenberg hat eine Musik komponiert, die die Inszenierung ständig begleitet und sie in ihrer Intensität steigert.”

“Und so ganz nebenbei entwickelt sich der Diskurs über gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen zu einem sehr aktuellen – ohne es einmal direkt auszusprechen oder anzuspielen: Was da auf der Bühne verhandelt wird, ist von bedrängender Aktualität.”

Nachtkritik:

Wer ist gewöhnlich und muss sich an Gesetze halten – und wer ist ein Genie, das sich selbst über ein Gebot wie “Du sollst nicht töten” hinwegsetzen darf? In seiner Adaption des Dostojewski-Klassikers blickt Oliver Frljić auf die individuellen Motive der Figuren – und auch wenn Aktualität nicht sein Ziel ist, hat er eine Botschaft, die sich als Kommentar auf Russlands Krieg gegen die Ukraine verstehen lässt.”

“Regisseur Frljić arbeitet mit grollendem Hintergrundsound, einer abgedunkelten Bühne, die ihre Lichtspots eng auf die Individuen richtet – und im übertragenen Sinne auf ihre individuellen Motive.

Die Inszenierung hält sich kaum an die Chronologie der Erzählung Dostojewskis, schaut weniger auf den Überbau, die gesellschaftlichen Verhältnisse eines verarmten Kleinadels und Bürgertums.

Die Figuren stehen am sozialen Abgrund, aber im Zentrum stehen ihre inneren Qualen. Frljićs Raskolnikow bekennt am Ende freimütig, dass er nicht aus edlen Motiven gemordet hat, nicht um der Welt etwas zu beweisen, nicht um Mutter und Schwester aus der Not zu helfen, sondern um die Grundlage für ein eigenes besseres Leben zu schaffen.”

“Oliver Frljić legt bloß, dass es kein komplexes Konstrukt braucht, um Verbrechen zu erklären. Gewalt ist in einer Welt ohne allgemeingültige Werte gebräuchliches Mittel zum Zweck – ob man sie nun ideologisch ummantelt oder nicht. Darin ist seine Inszenierung dann doch brandaktuell.”